Geboren ist Walid Regragui in Corbeil-Essonnes, einer kleinen Gemeinde am Ufer der Seine. Seine Spielerkarriere verbrachte der Sensationstrainer dieser Fußball-WM zu großen Teilen bei französischen Vereinen. Und doch stand für den 47-Jährigen nie in Zweifel: «Niemand kann meinem Land mein Herz nehmen».
Mittwoch, 14.12.2022
Ein Satz, den Tausende andere Marokkaner in Paris, Marseille und weiteren Großstädten ebenso aussprächen. Am Mittwoch (20.00 Uhr MEZ) spielt Regragui mit Marokko im Halbfinale gegen - und selten passt das im Sport inflationär verwendete «ausgerechnet» besser - Frankreich.
Über eine Million Menschen der marokkanischen Diaspora in Europa leben in französischen Städten, von 1912 bis zur Unabhängigkeit 1956 waren große Teile des heutigen Marokkos Protektorat der einstigen Kolonialmacht. In Paris wurde Marokkos Sieg im Viertelfinale gegen Portugal auf den Champs-Élysées wie «in Trance» gefeiert, wie die Zeitung «L'Équipe» schrieb. «Wir machen unser Volk, unseren Kontinent und die arabische Welt glücklich. Wir machen die ganze Welt glücklich», sagte Regragui, dessen seit Jahrzehnten in Paris lebende Mutter Medienberichten zufolge in Katar erstmals bei Fußballspielen ihres Sohns dabei ist.
Die Identifikation mit Marokko ist hoch
Der am Samstagabend vor den gerührten Augen der Fußball-Welt auf dem Rasen mit seiner Mutter tanzende Sofiane Boufal sowie Romain Saïss sind wie ihr Trainer in Frankreich geboren. Nur zwölf Profis aus Regraguis Team stammen ursprünglich aus Marokko. Weitere Nationalspieler kommen aus Kanada, Spanien, Belgien oder den Niederlanden. Starspieler Achraf Hakimi wuchs in Madrid auf und wechselte im Sommer 2021 zu Paris Saint-Germain.
«Die Identifikation mit Marokko bleibt trotzdem hoch, was natürlich auch am Rassismus liegt, der Menschen aus der Region in Frankreich häufig entgegenschlägt», sagte Jakob Krais, Professor für Neuere und Neueste Kulturgeschichte Nordafrikas an der Universität der Bundeswehr München. Er erinnerte an die Wahlerfolge der rechtsnationalen Partei Rassemblement National (RN) um Marine Le Pen und deren Erfolg, «Ressentiments gegen Menschen mit nordafrikanischen Wurzeln zu schüren».
Vor der WM, sagte Regragui, habe es Diskussionen gegeben, über die Profis aus dem Ausland, die Marokko angeblich nicht «mögen oder lieben». Die WM-Spiele aber zeigten, dass jeder «Marokkaner Marokkaner ist», sagte der Trainer und fügte martialisch an: «Wenn du zur Nationalmannschaft fährst, willst du sterben und kämpfen.» Der in Deutschland aufgewachsene frühere deutsche U21-Nationalspieler Abdelhamid Sabiri sagte der Zeitung «La Repubblica»: «Das ändert nichts. Deine Kultur ist die, die dir deine Eltern vermitteln.»
Auch ein vierter Platz wäre ein historischer Erfolg
Euphorisch gefeiert worden waren die bisherigen Triumphe in Katar auch in anderen europäischen Städten, in Deutschland insbesondere in Berlin, Frankfurt und dem Ruhrgebiet. In Brüssel kam es zuletzt vermehrt zu Ausschreitungen, in Mailand war am Wochenende bei den Straßenfeiern ein Mann niedergestochen worden. Entsprechend rüsten sich die Sicherheitskräfte für die Nacht nach dem Halbfinale in Katar.
«Grundsätzlich wäre ja auch ein vierter Platz bei der WM für Marokko und die ganze arabische Welt ein historischer Erfolg», sagte Krais der Deutschen Presse-Agentur. Das Spiel am Mittwoch könnte aber in den sozial schwachen französischen Banlieues als «Vehikel» genutzt werden, um die «generelle Frustration über ihre Lage» abzulassen. Beim ersten Spiel zwischen Frankreich und Algerien, das ähnlich wie Marokko mit Frankreich verbunden ist, hatten im Jahr 2001 Dutzende algerische Fans den Rasen im Stadion St. Denis bei Paris gestürmt und einen skandalösen Abbruch provoziert. Zwischen Marokko und Frankreich gab es bislang fünf Testspiele.
«Katar verliebt sich in Marokko»
In Katar ist die marokkanische Auswahl längst zu einem Symbol geworden. Nach dem frühen Aus des Gastgebers, von Saudi-Arabien und Tunesien tragen die Löwen vom Atlas die Hoffnungen der arabischen Fans. «Es liegt etwas anderes in der Luft, diese Art der innerarabischen Solidarität, das ist überall zu sehen», zitierte die «Washington Post» Marwan M. Kraidy, den Dekan der Northwestern University in Katar. «Katar verliebt sich in Marokko», schrieb die Zeitung «Le Parisien».
Das dürfte sich auch in der Zuschauerverteilung am Mittwoch spiegeln. Die französischen Fans waren schon im Viertelfinale gegen den alten Rivalen England stark in der Unterzahl. Marokko dagegen wird in Katar von etlichen Menschen aus der Region am Persischen Golf unterstützt. Schon bei den Erfolgen gegen Spanien und Portugal in der K.o.-Phase pfiffen die Zuschauer den Gegner das gesamte Spiel über bei jedem Ballkontakt aus. «Dass bei der ersten arabischen WM zum ersten Mal eine arabische Mannschaft im Halbfinale steht, ist schon Grund für Stolz auch über Marokko hinaus», sagte Krais.(dpa)
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