Stimmungstief ein Jahr vor EM: Unreif im 1000. Länderspiel

von Marcel Breuer | dpa21:23 Uhr | 12.06.2023
Kai Havertz (r) erzielte den 2:3-Anschlusstreffer.
Foto: Christian Charisius/dpa

Hansi Flick gratulierte nach dem ernüchternden 3:3 (1:2) kurz den tapferen Ukrainern, dann verschwand der Bundestrainer nach dem nächsten Stimmungsdämpfer schnell im Kabinengang des Bremer Stadions.

Nachdenklich wirkte der frühere Münchner Erfolgscoach, während Kai Havertz und Co. an diesem symbolträchtigen Abend im 1000. Länderspiel noch auf eine kleine Ehrenrunde gingen. «Das Spiel zeigt die Verfassung der Mannschaft», räumte Flick bei der DFB-Rückkehr nach Bremen im ZDF ein.

«Man merkt, dass die Mannschaft aktuell nicht mit der breiten Brust unterwegs ist. Daran müssen wir arbeiten. Wir wissen, dass es ein langer Prozess ist», ergänzte Flick und sprach von «individuellen Fehlern» nach einem guten Beginn. Mal wieder: Wie schon beim 2:3 im Testspiel gegen Belgien Ende März war das DFB-Team vor 35.795 Zuschauern insbesondere defensiv erneut nicht turniertauglich. So wird das nichts mit einem Fußball-Sommermärchen 2024. Ein Jahr vor dem Anpfiff der Heim-EM hat Flick noch viele Baustellen zu bearbeiten. Auch das Experiment mit der Dreierkette scheiterte und wurde später abgebrochen.

Kimmich per Strafstoß zum späten Remis

Immerhin wendeten Havertz (83.) und Elfmeterschütze Joshua Kimmich (90.+1) mit späten Toren wenigstens die nächste Niederlage ab. Doch der Unmut war bei den DFB-Fans nicht zu überhören, lautstarke «Ukraine»-Sprechchöre waren im Weserstadion zu vernehmen. 

Dabei lief zunächst alles nach Plan. Der Bremer Lokalmatador Niclas Füllkrug fälschte bei seinem siebten Tor im siebten Länderspiel einen Schuss von Marius Wolf entscheidend zum 1:0 ab (6. Minute), ehe «saudumme Gegentore» (Kimmich) das deutsche Spiel wieder komplett aus der Balance werfen. Mit einem Doppelschlag wendeten Wiktor Zygankow (18.) und Antonio Rüdiger (23./Eigentor) für die Gäste aus der Ukraine nicht nur die Partie, sondern deckten auch die Defensivschwächen bei den Gastgebern auf. Nach einem Patzer des Freiburgers Matthias Ginter erhöhte der herausragende Zygankow (56.). Mit «Werder Bremen»-Rufen quittierten die deutschen Fans den müden Auftritt.

«Das ist das, was wir abstellen müssen: Die Fehler hinten und vorne die Chancenverwertung», monierte Kimmich und Keeper Kevin Trapp fügte hinzu: «Individuelle Fehler können passieren, bei den anderen Situationen müssen wir es besser in den Griff bekommen. (...) Wir haben noch ein Jahr bis zur Europameisterschaft. Bis dahin müssen wir die Dinge abstellen.» 

Auch wenn die Benefiz-Partie im Zeichen der Ukraine-Unterstützung stand, war es aus DFB-Sicht ein sportlich bedenklicher Abend. Pfiffe gab es zudem für die Füllkrug-Auswechslung zur Pause. Der Druck auf Flick wächst vor den weiteren Tests in Polen und gegen Kolumbien.

Spiel gegen den Krieg

Dass es mehr als nur um Fußball ging, war an diesem symbolträchtigen Tag bei hochsommerlichen Temperaturen in der Bremer Arena klar. «Stop War - Wir gemeinsam für Frieden», stand auf einer überdimensionalen ukrainischen Fahne außen am Stadion, beide Teams liefen begleitet von 22 Flüchtlingskinder ins Stadion ein und auf der Tribüne verfolgten Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der ukrainische Botschafter Oleksii Makeiev nebeneinander das Spiel.

Steinmeier bezeichnete das Spiel als «ein Zeichen der Freundschaft und der Solidarität». Gleichzeitig gab der Politiker beim ZDF zu bedenken: «Wir dürfen Fußball-Spiele wie diese nicht überfordern. (...) Aber natürlich kann ein Fußball-Spiel an einer Kriegssituation nichts verändern. Das tun wir, das tut die Politik, indem wir Unterstützung leisten für diejenigen, die überfallen worden sind von Russlands Armee. Und wir müssen hoffen, dass die Ukraine diesen Krieg in den nächsten Wochen für sich entscheidend wendet.»

Als der Ball rollte, sollte es mit den Gastgeschenken eigentlich vorbei sein. Schließlich hatte Flick ein Jahr vor dem EM-Start im eigenen Lande eine deutliche Steigerung und Fokussierung gefordert. Und es ging auch gut los: Füllkrug verpasste nach einem Fehlpass von 100-Millionen-Mann Mudryk nach 90 Sekunden die Führung. Kurz darauf war der Bremer in seinem Stadion doch am Führungstor beteiligt. Nach einem Schuss von Wolf - die Aktion wurde sehenswert von Kapitän Joshua Kimmich eingeleitet - fälschte der Bremer den Ball unhaltbar ins Tor ab. Die Europäische Fußball-Union schrieb das Tor Füllkrug zu.

Doch wie schon bei der bedenklichen 2:3-Pleite gegen Belgien im März zeigte sich das DFB-Team im Defensivverhalten alles andere als EM-reif. Die von Flick erstmals getestete Dreier-Abwehrkette mit Nico Schlotterbeck, Matthias Ginter und Rüdiger erwies sich als extrem löchrig. Tempodefizite und viele Schwächen im Stellungsspiel sorgten beim Bundestrainer auf der Bank für große Verärgerung. 

Schlotterbeck nicht auf der Höhe

Das erste Gegentor leitete dabei der Dortmunder Julian Brandt mit einem kapitalen Fehlpass ein, während Schlotterbeck viel zu weit weg von seinem Gegenspieler stand. So reichte ein Pass von Alexander Tymtschik auf Torschütze Zygankow, um die deutsche Abwehr auszuhebeln. Damit war die anfangs nervös agierende ukrainische Auswahl, in deren Startelf immerhin fünf Akteure aus der heimischen Liga standen, im Spiel angekommen.

Von einem deutschen Schönheitsfehler konnte keine Rede mehr sein. Nachdem David Raum unter Druck den Ball verlor und Schlotterbeck wieder nicht auf der Höhe war, musste der Frankfurter Keeper Kevin Trapp in seinem ersten Länderspiel seit gut 15 Monaten erneut hinter sich greifen. Rüdiger hatte den schwachen Schuss von Mudryk ins eigene Tor gelenkt. Kurz vor der Pause hätte Tymtschik mit einem Schuss ans Außennetz noch für einen weiteren Dämpfer sorgen können. 

Vom anfangs ansehnlichen deutschen Spiel war nichts mehr zu sehen. Sommerfußball anstelle eines ernsthaften EM-Tests bekamen die Zuschauer zu sehen. Einzig ein Freistoß von Leroy Sané an die Latte kurz vor der Pause (45.+3) ließ die Fans in Bremen beim ersten Länderspiel nach mehr als elf Jahren noch einmal aufspringen. Wegen des Rechtsstreits der Hansestadt mit der Deutschen Fußball-Liga um die Übernahme von Polizeikosten hatte der DFB mehrere Jahre keine Partien dorthin vergeben.

Und dieses Spiel wollte Flick nicht auch noch verlieren. Der indisponierte Schlotterbeck blieb zur Pause in der Kabine, genauso wie Füllkrug. Dafür kamen Lukas Klostermann und Havertz ins Spiel. Aber der Weckruf verhallte: Als Ginter ein halbhohes Zuspiel von Wolf nicht unter Kontrolle bringen konnte, nahm Artem Dowbyk das Geschenk dankend an und legte mustergültig für Doppeltorschütze Zygankow auf. Der Unmut der Fans nahm von Minute zu Minute zu. Immerhin blieb eine weitere Pleite erspart, nachdem Havertz und Kimmich spät trafen.

(dpa)



Das ist keine Gurkentruppe, auch wenn sie aus der Lausitz kommt.

— Erich Laaser