Glänzt und nervt: Bellingham als große EM-Reizfigur
von Marcel Breuer | dpaJude Bellingham breitete die Arme ganz weit aus und brüllte gut verständlich zwei Worte, die kaum sinnbildlicher für seine EM-Tage von Deutschland stehen könnten: «Wer sonst?»
Wer sonst sollte in der 95. Minute in einem Achtelfinale Englands Titelträume nach 58 Jahren Tristesse am Leben halten? Wer sonst sollte diesen so denkwürdigen wie akrobatischen Fallrückzieher für alle Rückblicke dieses Turniers hinbekommen?
Bellingham ist in ganz jungen Jahren zu einem Fußball-Weltstar geworden. Fußballerisch ist der Champions-League-Sieger von Real Madrid über jeden Zweifel erhaben. Das Problem, das viele Experten und Zuschauer mit ihm bei dieser EM haben: Sein Selbstbewusstsein scheint im gleichen Tempo gewachsen zu sein wie seine spielerische Klasse.
Obszöne Geste nach Traumtor
Bellingham wird von vielen als äußerst arrogant wahrgenommen. «Er ist erst 21 Jahre alt geworden. Jude ist noch ein junger Kerl und reagiert deswegen auch wie einer», rechtfertigte Nationaltrainer Gareth Southgate Bellinghams Aussagen nach dem denkwürdigen 2:1 nach Verlängerung gegen die Slowakei im Achtelfinale von Gelsenkirchen.
Seine Teilnahme am anstehenden Viertelfinale gegen die Schweiz am Samstag (18.00 Uhr/ZDF und MagentaTV) hat Bellingham mit seinem überschwänglichen Jubel sogar riskiert. Weil er nach seinem sehenswerten Tor einen Griff in Richtung der eigenen Genitalien andeutete, ermittelt die UEFA gegen den Jungstar.
Für Bellingham selbst war alles halb so wild. Er habe mit der obszönen Geste nicht die Bank der Slowakei provozieren, sondern lediglich einen Gruß auf die Tribüne senden wollen. «Das war ein Insider in Richtung ein paar meiner Freunde, die im Stadion waren», erklärte er.
Beobachter bemerken Veränderung
So richtig macht der Youngster gerade zum ersten Mal die Erfahrung, bei einem großen Turnier im Mittelpunkt der englischen Aufmerksamkeit zu stehen. «Der Druck ist enorm hoch, die Fans erwarten viel, die Leute reden viel», ließ Bellingham verschwitzt im Trikot nach dem extrem glücklichen Weiterkommen gegen Außenseiter Slowakei wissen. Für ihn sei es «schön» gewesen, es mal einigen Leuten heimzuzahlen.
Die Aussagen auf dem Pressepodium, die Gesten gegenüber Teamkollegen und das Verhalten auf dem Rasen: Wirklich beliebt macht sich Bellingham bei dieser EM nicht. «Nach dem Turnier in der Sommerpause hoffe ich, dass er sich ein bisschen reflektiert. Ich glaube, ich bin nicht der Einzige, der sagt, boah, manchmal nervt er», sagte ZDF-Experte Christoph Kramer. Menschen, die Bellingham in Dortmund hautnah erlebt haben und nun bei der EM wiedersehen, machten ein Jahr nach seinem Abgang vom BVB ähnliche Beobachtungen. Ein dominantes Auftreten hatte er schon damals, es war aber noch nicht ganz so ausgeprägt.
Bellingham ist längst mehr als nur ein herausragend talentierter Star. Er ist Unterwäschemodel für Reality-TV-Star Kim Kardashian, macht Werbung für Adidas, ist ständig als Gesprächspartner gefragt. Bei Real Madrid trug er gleich im ersten Jahr die Nummer fünf des ehemaligen Weltklasse-Kickers Zinedine Zidane. Bei der EM steht die enorme Reife, die ihm zuvor noch zugesprochen wurde, erstmals auf dem Prüfstand.
«Er liefert in den großen Momenten»
«Er ist natürlich ein herausragender Spieler, er muss nur insgesamt aufpassen, dass er jetzt nicht anfängt, Allüren zu bekommen in ganz jungem Alter. Was ich immer ganz schlimm finde, ist, wenn man vor eigenen Mitspielern abwinkt. Er hatte so ein paar Gesten drin, auch schon in den letzten Spielen», monierte Kramer.
Von den eigenen Mitspielern oder Cheftrainer Southgate gibt es solche Kritik bislang nicht. Stattdessen herrscht Dankbarkeit. Die Spieler der Three Lions feierten unisono und angeführt von Kapitän Harry Kane ihren Helden, der das EM-Turnier rettete. «Er liefert in den großen Momenten. Das war eines der besten Tore in der Geschichte unseres Landes», lobte Kane.
Fitnessfragen bei Bellingham und Kane
Abgesehen von dem Geniestreich und dem Siegtor gegen Serbien im ersten EM-Spiel ist Bellinghams Turnierleistung bislang durchwachsen. Der vielseitige Mittelfeldspieler verliert ungewöhnlich viele Zweikämpfe und hat über weite Strecken kaum Bezug zum englischen Spiel. Nach einer langen Saison mit Real inklusive Königsklassen-Triumph wirkt Bellingham überspielt. «Gestern fühlte ich mich wirklich tot», sagte der Ex-Dortmunder nach dem kräftezehrenden 0:0 im finalen Gruppenspiel gegen Slowenien.
Gegen die Slowakei wollte Southgate Ausnahmekönner Bellingham - wie auch den ebenso schwachen Kapitän Kane - schon nach 75 Minuten auswechseln. Er ließ es bleiben, der Rest war britische Fußball-Geschichte. «Man weiß, dass sie in der Lage sind, das zu tun, was sie getan haben», beschrieb Southgate.
(dpa)