Noch vor dem Abschlusstraining stellte Thomas Tuchel mit einem Leuchten in den Augen Kapitän Manuel Neuer den sehnsüchtig erwarteten Startelfeinsatz gegen Darmstadt in Aussicht.
350 Tage nach dem Zu-Null-Sieg bei seiner alten Fußball-Liebe FC Schalke 04 soll der 37-jährige Neuer nach seinem schweren Beinbruch sowie einer für Körper und Geist komplizierten Reha am Samstag (15.30 Uhr/Sky) erstmals wieder im Tor des FC Bayern stehen. Der 28. Oktober 2023 wird einen Meilenstein in Neuers Hochglanzkarriere markieren - als Triumph auch über eigene Ängste und externe Zweifler.
«Wenn nichts passiert im Training, dann spielt er», verkündete Tuchel gleich zum Auftakt seiner Pressekonferenz. Dabei klopfte der Bayern-Coach zum «toi, toi, toi» dreimal laut hörbar mit der Hand aufs Podium. «Er freut sich darauf! Wir freuen uns darauf! Und es freuen sich wahrscheinlich noch ein paar mehr darauf», sagte Tuchel lächelnd mit Blick auf die 75.000 Zuschauer, die eines der größten Fußball-Comebacks live in der ausverkauften Münchner Allianz Arena miterleben können.
Tuchel: Neuer kann «stolz auf sich sein»
Neuers Rückkehr wertet das Bundesliga-Heimspiel des Rekordmeisters gegen den Aufsteiger aus Hessen zu einem Top-Event auf. Zumal Tuchel erkennen ließ, wie hart Neuers Kampf in den vergangenen Monaten war, um wieder Leistungssport auf höchstem Niveau betreiben zu können. «Er kann stolz auf sich selber sein, auch die Reha-Abteilung, die Physios, die Ärzte, alle, die da mitgewirkt haben. Ich freue mich riesig für ihn. Es ist beeindruckend, eine tolle Geschichte», schwärmte Tuchel.
Der 50-Jährige sprach sogar von Genugtuung: «Ich glaube, dass das 'Ich werde es noch mal allen zeigen' eine Rolle spielt in ihm, in seinem Wettkampfdenken und seiner Mentalität.» Tuchel wünscht dem Weltmeister von 2014, dass er das Comeback als «Geschenk» betrachtet für die harte Arbeit seit dem folgenschweren Ski-Ausflug am 9. Dezember 2022. «Bei dem Unfall wurde ihm nach einer Weile sehr bewusst, wie knapp das eigentlich war.»
«Manu macht jeden Abwehrspieler stärker»
Tuchel erwartet zwar eine Rückkehr mit «einem Mix aus Nervosität und Kribbeln» bei Neuer. Aber an einem erfolgreichen Comeback hegt er keine Zweifel. Der Coach klang vielmehr euphorisch: «Was ich im Training wahrnehme, ist ein komplett neues Level an Torwartspiel. Manu macht jeden Abwehrspieler stärker, jeden Torwartkollegen. Das ist eine eigene Liga.»
Als Gegner hat Tuchel diese in der Vergangenheit schon schmerzlich erlebt. Nach dem verlorenen Champions-League-Finale gegen den FC Bayern mit Paris Saint-Germain 2020 in Lissabon sprach er angesichts des grandios haltenden Neuer anerkennend von «einer Art Wettbewerbsverzerrung». Auf die Frage, ob Neuer auch noch einmal die Nummer 1 der Nationalmannschaft werde, antwortete Tuchel: «Wenn Manu ab sofort verletzungsfrei bleibt bis zur Europameisterschaft und die jetzt gemachte Lebenserfahrung mitnimmt, werden wir uns die Frage im Mai nicht stellen. Das ist meine Prognose.»
Neuers letztes Spiel im Dezember 2022
Leicht wird das komplette Zurück-in-die Zukunft für Neuer freilich nicht. Am 1. Dezember 2022 hat er zuletzt im Tor gestanden, beim 4:2 gegen Costa Rica, das trotz des Sieges das deutsche Vorrunden-Aus in Katar besiegelte. Damals war auch Neuer nicht auf seinem Top-Niveau. Das wird er aber wieder erreichen müssen, um ins DFB-Tor zurückzukehren - und auch, um seinen am Saisonende auslaufenden Vertrag verlängert zu bekommen.
Immerhin: Die Misstöne zwischen Neuer und dem FC Bayern rund um die Ablösung seines jahrelangen Torwarttrainers und Freundes Toni Tapalovic belasten das Comeback nicht mehr. Die Verantwortlichen von damals - Vorstandsboss Oliver Kahn, Sportvorstand Hasan Salihamidzic und Trainer Julian Nagelsmann - sind alle nicht mehr im Amt.
Ulreich trotz starker Leistungen wieder Nummer 2
Der Blick geht im Herbst 2023 aber nicht mehr zurück, sondern nach vorn. «Ich bin sicher, dass Manu ganz schnell in Rhythmus kommt», sagte Tuchel. Für die jahrelange Nummer eins muss der treue Platzhalter Sven Ulreich das Tor räumen, obwohl der 35-Jährige gerade in den jüngsten Partien überragend hielt. «Ulle hat als Freund, als Komplize von Manuel Neuer die Leistung gebracht, die er gebracht hat. Die war herausragend gut», lobte Tuchel.
Aber Ulreich erkenne die Hierarchie an, meinte der Trainer. «Natürlich ist es schade, nicht mehr im Tor zu stehen. Aber ich kenne meine Rolle beim FC Bayern», bestätigte Tuchel. Ulreich ist jetzt wieder die Nummer 2. Und «auf lange Sicht», wie Tuchel ankündigte, soll der im Sommer verpflichtete Israeli Daniel Peretz (23) «Herausforderer, Platzhalter und vielleicht auch Nachfolger» von Neuer werden.(dpa)
Unser größter Gegner sitzt in der eigenen Kabine.
— Dr. Gerd Niebaum, Präsident von Borussia Dortmund, in der Krisen-Saison 1999/2000.